Ein Paradox? Die AfD hat sich gespalten, weil sie inhaltlich reicher wurde:
Die Besinnung auf die Nation ist Verfassungsauftrag.
In der AfD geht ein Geist um: Der Geist der politischen Korrektheit. In den vergangenen Monaten hat er sich breit gemacht, nach der Wahl des neuen Bundesvorstandes wütet er geradezu. Menschen, mit denen wir anfangs gemeinsam über einen Wandel zum Besseren träumten, mit denen wir Plakate klebten oder an Infoständen ausharrten, schütten Häme und Galle aus. Sie keifen und geifern in der Diktion des politisch-medialen Kartells, ja sie übernehmen stellenweise die feindselige Sprache der Antifa: Deutschnationale, provinziell-deutschtümelnde Kräfte hätten eine radikal- bis dumpf-nationalistische Wende, ja einen Rechtsrutsch erzwungen.
Eine Akzentverschiebung hat in der AfD tatsächlich stattgefunden, und das kam nicht überraschend. An der Wiege der AfD stand ein (zumindest stillschweigender) Gründungskonsens. Denn Bernd Lucke war nicht Alleingründer der AfD. Er hatte Mitgründer, deren Position bekanntlich nicht (oder nicht in erster Linie) wirtschaftsliberal war. Sie hatten die wirtschaftsliberale Position während der Bundestagswahl vorbehaltslos unterstützt. Sie durften erwarten, daß irgendwann auch ihre Position honoriert wird.
Bernd Lucke ist ein ausgezeichneter Fachmann innerhalb seines Spezialgebietes, der Finanz- und Währungspolitik. Nun ist jeder von uns, außerhalb seines Spezialgebiets, bestenfalls mittelmäßig, schlimmstenfalls ignorant. Es ist keine Beleidigung zu sagen daß es sich mit Bernd Lucke nicht anders verhält. Der Unterschied ist, daß er dies nicht wahrhaben wollte. Als die Macht der Argumente ihm zu entgleiten drohte, ließ er sich auf eine Reihe von autokratischen und politisch instinktlosen Handlungen ein. Er provozierte einen Riß durch die Partei. Auf der einen Seite sammelten sich Bekenner und Jünger des Charismatikers Lucke, und Realpolitiker, die um des Erfolgs willen bereit waren, dem „Aushängeschild“ und dem „Gesicht der Partei“ autokratische Alleingänge nachzusehen. Auf der anderen Seite sammelten sich nicht nur Feinde sondern auch vormals überzeugte, von seinem Führungsstil allmählich enttäuschte „bürgerliche“ Anhänger.
Dem nationalliberalen Ökonom, Historiker und Soziologen Max Weber war noch bewußt: Das ökonomische Interesse und das Verhalten des Menschen ist untrennbar von einem Wertsystem oder der Gesamtbetrachtung seiner Existenz. Beide sind, in der Sprache des säkularisierten Westens, als das Themenkomplex der Nation auf den Punkt zu bringen. Genau das ist der Kristallisationspunkt der Gegensätze in der AfD—das Thema, das der Weckruf als Rechtsrutsch, andere als Erweiterung des AfD-Spektrums verstehen.
Wer ist im Recht? In seinem Urteil vom 30. Juni 2009 zum Lissabon-Vertrag stellt das BVerfG fest: Deutschland besitze, als jeder EU-Mitgliedstaat, eine unverfügbare nationale Verfassungsidentität, die der „Ewigkeitsgarantie“ des GG unterliegt (Leitsatz 4). Zwar enthält das GG auch das Ziel „europäische Integration“. Dieses Gebot ist jedoch nicht schrankenlos, die Wahrung der Verfassungsidentität ist ihm übergeordnet. Wenn die Integration die Verfassungsidentität in Gefahr bringt, obliegt Deutschland die Verantwortung, dem entgegenzuwirken,
im äußersten Fall sogar ihre weitere Beteiligung an der Europäischen Union zu verweigern.
Im Klartext: Wenn der Integrationsprozeß die nationale Verfassungsidentität bedroht, ist Deutschland berechtigt, sogar verpflichtet, ihm entgegenzuwirken, im Ernstfall aus der Europäischen Union auszutreten.
Die „alte“ AfD hat diesen Verfassungsauftrag nicht wahrgenommen. Der (gescheiterte) Mitgliederentscheid von Geiger-Lucke hatte ihn sogar als fundamental-oppositionelle oder isolationistische Position diffamiert.
Die neu formierte AfD hat das wirtschaftsliberale Programm keineswegs widerrufen sondern ihm das Thema „Nation“ gleichberechtigt zur Seite gestellt. Der Verein Weckruf, der die Partei vor der Spaltung hätte verhindern sollen, hatte die Erweiterung als Rechtsrutsch diffamiert, und im Endergebnis die Spaltung beschleunigt.
Ein Parteienforscher hat festgestellt, ohne Bernd Lucke habe die AfD keine Chancen bei den Wählern. Die Frage, welche Chancen Lucke ohne die AfD hat, hat er nicht gestellt. Kann Lucke den Erfolg wiederholen? Kann er die damalige Begeisterung nochmal auslösen? Werden die Querelen der letzten Monate ihn nicht belasten?
Nach seinem Austritt aus der Partei wird er nun als ein „ehrlicher Liberaler“ oder ein gemäßigter Konservativer dargestellt, der sich allenfalls verkalkuliert hat, indem er Stimmen am rechten Rand sammeln wollte. Die Medien instrumentalisieren nun ihn und die geplante Neugründung „Neustart 2015“, und spielen sie gegen die AfD aus. Wie lange wird aber die Schonzeit währen? Wann werden sie sie, wie ihre Vorgängerin und Konkurrentin, in die braune Ecke stellen?
Laut einer Mitgliederbefragung wünschen drei Viertel der Anhänger von Weckruf eine Neugründung. Nur knapp fünf Prozent gaben an, in der AfD bleiben zu wollen. Mehr als zwölf Prozent waren unentschlossen. Die entscheidende Frage ist indessen nicht die Verteilung innerhalb der Partei sondern wo sich die Trennlinie unter den Wählern verläuft. Wissen wir, welche Wählerschichten, in welchem Anteil, welche der beiden Gruppen tragen?
Viele Austrittswillige sagen, sie könnten die neue Gestalt der AfD mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren. Ihnen gebührt Respekt. Ist es aber naiv zu erwarten, daß sie—wenn auch nicht in Freundschaft, so doch—ohne medienwirksame Getöse austreten, und die Brücke hinter sich nicht abbrennen? Frauke Petry hat ja die Weckrufler nicht als „Elemente“ bezeichnet, von denen die Partei „gesäubert“ werden sollte.
Auch viele Fachleute verlassen die AfD. Das ist schlimm genug, und wird in den Medien gerne aufgegriffen: In der AfD würden meist nur Laien oder allenfalls zweitklassiges Fachpersonal zurückbleiben. Der gewohnte Technokraten-Dünkel! Frauke Petry hat nicht das gleiche ökonomische Spezialwissen wie Bernd Lucke, und das hat sie auch nie behauptet. Was sie jedoch besitzt, das ist politischer Instinkt und politisches Format. Sie verspricht zu integrieren, wo Bernd Lucke ausgegrenzt hat. Sie und ihre Mannschaft verdienten die „hundert Tage“ Schonzeit, die in der Regel neugewählten Regierungen gewährt wird.
Dr. Vilmos Holczhauser
Politikwissenschaftler