Der bislang reichlich glücklose Außenminister Gabriel (SPD) schreibt in der Bildzeitung vom 22.7.17  einen offenen Brief an die Türken in Deutschland und zwar in Türkisch und Deutsch. Was Gabriel wohl für eine gute Idee hielt, ist eher die Bankrotterklärung der Integrationsbemühungen türkischer Mitbürger in Deutschland. Es ist das Eingeständnis einer großen Parallelgesellschaft, die nur sicher in ihrer eigenen Sprache erreicht werden kann. Was bedeutet dieser Beweis für unsere Gesellschaft?

Die Transatlantikfanatiker Gabriel, Merkel, de Mazière und Co. propagieren die offene Gesellschaft für Europa und die ganze Welt. Dies entspricht der 2004 vorformulierten amerikanischen Militärstrategie der vier Ströme, die zwingend auf der Welt grenzenlos frei fließen können müssen: Geld, Energierohstoffe, Menschen und „Sicherheit“(=amerikanische Militärpräsenz). Formuliert von Thomas Barnett wurde diese Strategie nun sichtbar von den demokratischen Präsidenten der USA verfolgt. Der Krieg gegen den Terror, der 2001 vom republikanischen Präsidenten George W. Bush ausgerufen wurde, diente der Rechtfertigung der Militärausgaben, nachdem der kalte Krieg beendet worden war. Beide Strategien decken sich in dem Punkt, als die Strategie der vier Ströme Gegner der offenen Gesellschaft überzeugen oder ggf. eliminieren will. Wer sich ihr nicht anpassen will, gilt als Terrorist und wird als Individuum verfolgt, damit wird der Krieg gegen den Terror gerechtfertigt.

Bis 2015 schien sich die Türkei als verlässlicher NATO-Partner auch an o. g. Strategien zu orientieren. Frau Merkel ist laut dem verstorbenen Pentagonstrategen Brzeszinski mit dem türkischen Präsidenten Erdogan freundschaftlich in einem geheimen Club verbunden, wie dem russischen Präsidenten Putin in einem anderen Club. Diese Clubs gehen zum Teil bis 100 Jahre zurück, als Kemal Atatürk – der Führer der Jungtürken – 1914 das Osmanische Reich zu einem Neuanfang mit der Wiederinkraftsetzung der Verfassung und westlichem Rechtswesen zwingen konnte. Er modernisierte die Türkei indem er Staat und Religion trennte, die lateinische Schrift einführte und das Land dem Westen öffnete. Das Heer, das überwiegend aus Aleviten bestand, war bis 2016 der Garant dieser nationalistischen, westlich geprägten Ordnung. Immer, wenn dieses System bedroht war, war bis 2016 erfolgreich geputscht und die abtrünnigen Politiker wieder auf den rechten Weg zurückgeführt worden. Seit ca. 20 Jahren hatten aber fundamentalistische religiöse Bewegungen die Mehrheit im Heer gewonnen. Viele alevitische Offiziere waren durch Skandale etc. aus dem Heer entfernt worden. Als die restlichen Offiziere letztes Jahr putschten, gelang es ihnen nicht mehr die Oberhand zu gewinnen.

Damit ist die Türkei in ein neues Stadium getreten. Wie wir erlebt haben, beruft sich der Präsident stark auf die Religion. Seinen Mitstreiter, dessen Anhängerschaft er als Trittbrett zum obersten Amt benutzte, hat er als Konkurrenten entsorgt. Durch die Verfassungsänderungen hat Präsident Erdogan nun eine ähnlich starke Machtposition, wie Putin in Russland. Das war sicherlich so nicht von den Clubs geplant und erklärt daher den aktuellen Politikwechsel gegenüber der Türkei.

Die Strategie der vier Ströme, welche weltweit die offene Gesellschaft propagiert, greift stark aktiv in alle Länder ein, die sich weiterhin selbstbestimmt verhalten wollen. Sie unterminiert Werte und geht davon aus, dass sich die Religionen von selbst erübrigen. Hier liegt aber der kolossale Fehler dieser Doktrin. Die USA haben seit Afghanistan islamische Fundamentalisten und Terroristen unterstützt und damit einen bislang schlafenden Riesen geweckt. Das Widererstarken des Islam, dessen vermehrte Betonung in vielen Ländern, ist u. a. eine Abwehrreaktion auf die amerikanische Beglückung der Welt mit der offenen Gesellschaft. Samuel Huntington, der Lehrer von Thomas Barnett, hat diesen eindringlich davor gewarnt, die Macht der Religionen zu unterschätzen. Er hat auch prophezeit, dass das Zusammenfließen von Menschenmassen aus unterschiedlichen Kulturen zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen kann. Die Türkei ist ein Kristallisationspunkt zwischen der offenen Gesellschaft und dem Islam. Die Türken haben nun die Wahl – in der offenen Gesellschaft sollen sie so areligiös wie möglich leben oder sie müssen sich bald in der Türkei den strengen religiösen Vorschriften beugen.

Uns Deutsche scheint das zunächst nichts anzugehen. Die Frage ist aber, wie werden sich die hier lebenden türkischen Mitbürger verhalten? Wie verlässlich sind sie, die seit dreißig Jahren bei uns in ihrer Parallelwelt leben? Wie weit können wir ihnen vertrauen, dass sie die tolerante Gesellschaft verteidigen? Wird ein Teil konsequent in die Türkei zurückkehren und den starken Präsidenten unterstützen oder wird dieser stark religiöse Teil versuchen unsere Gesellschaft umzukrempeln? Erdogan hat unsere türkischen Mitbürger bereits gespalten, nach dem Motto: Teile und Herrsche! Nachdem Kultur und Heimat auf Vertrauen basiert, das wir als Kinder bei den Eltern, unter Mitschülern, Kollegen und Freunden auf dem gemeinsamen Lebensweg und als Gesellschaft durch gemeinsam durchlebte Geschichte aufgebaut haben, dürfen wir gespannt sein, wie tragfähig sich die bisherige Beziehung zu unseren drei Millionen türkischen Mitbürgern – mit und ohne Pass – wie unser Außenminister sagt, erweisen wird.

Einzelheiten finden sich in Hülya Özkans Buch: In Erdogans Visier – Warum er Deutschtürken radikalisieren will und was das für uns bedeutet, ISBN9783426789193 und bei Zana Ramadani: Die verschleierte Gefahr – Die Macht der muslimischen Mütter und der Toleranzwahn der Deutschen, ISBN 9783958900776.